BLOG: 23.03.2022

Die Arbeitszeit - Eine Generationenfrage?

Time matters

In Deutschland gibt es nach wie vor eine „Kultur des Frühausstiegs". Drei von vier Erwerbstätigen sehen sich nicht in der Lage, bis 67 oder länger zu arbeiten. Dabei wären viele Arbeitnehmer bereit, länger zu arbeiten, wenn... tja, das beliebte wenn. Das wird gerade den Firmenchefs und HR-Managern von der jungen Generation heftig um die Ohren gehaut.

"Die jungen Mitarbeiter wollen an jedem Freitag der Woche ihre Freizeit genießen und strengen sich nicht im selben Ausmaß an wie wir", sagen die Älteren. Diese arbeiten ineffizient, kein Wunder, dass sie im Burnout landen, sagen die Jungen. Wer hat recht? 

Die Arbeitsethik vieler älterer Mitarbeiter ist auch in Zeiten wie diesen geprägt von einem Phänomen, das sich Präsentismus nennt. Eine Arbeitsweise, die viele - eher konservative - Chefs vorleben: Wer lange im Büro hockt, ist produktiv, erbringt gute Leistung und verdient eine Gehaltserhöhung. Wer in Unternehmen mit starren Hierarchien arbeitet, lebt, so antiquarisch sich das heute anhört, folgendes Dogma: Man bleibt so lange, wie der Chef bleibt. Auch wenn man nichts mehr zu tun hat, tut man so, als würde man viel erledigen. Denn nur, wer weit mehr als 40 Stunden arbeitet, wird wertgeschätzt.

 

Die lästigen Zweifel

Laut Umfragen zählen Status und Gehalt zu den Motivationstreibern der meisten Babyboomer. Je älter die Arbeitnehmer, desto mehr Überstunden machen sie. Laut dem deutschen Überstundenreport bleiben Beschäftigte über 60 Jahre im Schnitt 3,7 Stunden länger pro Woche, die sogenannte Generation Z nur halb so lang. Die Millennials liegen mit 2,5 Plusstunden auch darunter. Erhebungen zeigen, dass Mitarbeiter eher befördert werden, die von Führungskräften öfter physisch gesehen werden. Auch im Corona-Lockdown wurden Home Office-Arbeiter seltener mit einer höheren Position betraut. Wie wir wissen, macht Präsentismus in Form digitaler Dauererreichbarkeit auch vor dem Home Office nicht halt.

In einem ZEIT-Interview zum Thema Home Office, meinte der Inhaber eines Betriebes: „Einige Mitarbeiter waren morgens um zehn Uhr noch nicht erreichbar und haben den ganzen Tag vielleicht drei Striche gezeichnet. Die haben in einer Woche geschafft, was unser Praktikant am ersten Tag hinbekommt, und Home Office mit Urlaub gleichgesetzt. Einmal habe ich einen unserer Studenten, der bei uns eine betriebliche Ausbildung macht, um elf Uhr mit dem Kinderwagen über den Marktplatz spazieren gesehen. Da kommt man schon ins Grübeln.“

 

Sesselkleber - adé

In einer hybriden Arbeitswelt sind Konzepte vonnöten, die eine neue Kultur fördern. Weg von der alten Welt, in der Arbeitnehmer wenig Freizeit haben und Sesselkleber priorisiert werden. Hin zu einer neuen, in der Belastungen ernst genommen werden. Arbeitnehmer, die Repräsentanten des Präsentismus sind brüsten sich damit, nur vier Stunden zu schlafen. Das ist nicht gesund und kann ins Burnout führen.

Laut Umfragen zur Wunscharbeitszeit wollen viele ihre Arbeitsstunden reduzieren. Gerade die unter 35-Jährige wünschen sich eine Verkürzung. Obwohl in der Pandemie auch Angestellte der älteren Generation, die im Home Office waren merkten, wie praktisch es sein kann, flexibel statt klassisch 9 to 5 zu arbeiten.

 

Die 40-Stunden-Woche ist tot

Der 8-Stunden-Tag und die 40-plus-Stunden-Woche sterben ergo aus. Wenn es nach den Jungen geht. 85 Prozent der Jugendlichen wünschen sich flexible Arbeitszeiten, den 8-Stunden-Tag wollen nur vier von zehn von ihnen. Mit flexiblen Arbeitszeiten meinen sie früher zu beginnen und früher aufzuhören oder erst gegen Mittag anzufangen und dafür länger zu bleiben. Oder die Stunden als Viertagewoche aufzuteilen.

Die 30-Stunden-Woche

Seit Jahren fordern junge Menschen eine gute Work-Life-Balance. 30 Wochenstunden oder weniger sind für die meisten die ideale Arbeitszeit. Sie arbeiten lieber Teilzeit und verzichten dafür auf Geld, weil ihnen der Ausgleich wichtiger ist. Der Job soll die Sicherheit dafür bieten und es ihnen ermöglichen, sich zu verwirklichen und weiterzuentwickeln. Sich hocharbeiten ist für viele unattraktiv. Sie sehen an ihren Eltern, wie sehr sich die Generation der Babyboomer und Generation X für den Job aufopfert. Diese Art zu Arbeiten ist für sie kein gutes Vorbild, daher wollen sie es anders machen. Selbstverwirklichung abseits des Jobs ist genauso wichtig, meinen sie.

 

Junge Mitarbeiter sind nicht faul

Trotzdem: eine schwindende Arbeitsmoral kann jungen Mitarbeitern nicht unterstellt werden. Viele haben große Ziele, das zeigen gut besuchte Hackathons, StartUp Inkubatoren und viele Umfragen. Was es jetzt braucht, ist Verständnis für die neue Arbeitswelt, die neuen Arbeitsweisen und individuell anpassbare Arbeitszeitmodelle. Und Vertrauen in die Jugend: Ihr sollte nicht weniger Leistungsbereitschaft nachgesagt werden, weil sie Forderungen an eine work-life-balance-freundlichere Arbeitswelt stellt.

 

Gesundheit: Bedeutet länger arbeiten auch länger leben?

Was machen diese Schlagzeilen mit Ihnen: Karriere? Nein, danke. Oder: Wie kann man früher in Rente gehen? oder gar Witze, wie dieser: Alle Senioren gehen in Frührente, nur nicht Unternehmer Paul, der flennte.

Wer im ­Alter länger arbeitet, ist oft länger fit. Peter V. ist 72 und erlebt als Unternehmensberater einen zweiten Frühling. Er sagt: "Meine drei besten Freunde sind alle über 65 Jahre und arbeiten noch. Sie sind alle selbständig tätig, einer hat eine Jobvermittlung, der andere eine Werbeagentur und der dritte war CEO einer riesigen Unternehmensberatung, ging zwar mit 65 in Rente, berät aber auf Basis eines Retainervertrages noch immer Unternehmen an zwei Tagen pro Woche, die seinen Weitblick schätzen. Es gibt entweder die Gruppe an Menschen, die mit Ende 50 schon Schwierigkeiten haben, vom Sofa ­aufzustehen, und es gibt die, die mit Ende 70 noch Berge besteigen."

Je länger Menschen arbeiten, desto eher müssen Unternehmen beginnen, Arbeitszeitmodelle für verschiedene Lebensphasen anzubieten. Es gibt Phasen im Leben, in denen man nicht mehr 40 Stunden zur Verfügung stellen kann – und schon gar nicht mehr die 50 bis 60 Stunden, die viele arbeiten.

 

Wer unflexibel ist, verliert jung und alt

In Deutschland gibt es nach wie vor eine „Kultur des Frühausstiegs. Drei von vier Erwerbstätigen sehen sich nicht in der Lage, bis 67 oder länger zu arbeiten. Dabei wären viele Arbeitnehmer bereit, länger zu arbeiten, wenn ihr Beruf weniger körperliche Belastung und Stress mit sich brächte. Auch flexiblere Arbeitszeiten oder mehr Gehalt wären ein Anreiz, den Ruhestand hinauszuschieben.

Wenn Firmenchefs aber keine derartige Flexibilität anbieten, besteht nicht nur die Gefahr, junge Arbeitskräfte erst gar nicht zu finden, sondern auch ältere Arbeitskräfte zu verlieren. Die 55-jährige Ines Z. aus Düsseldorf hat nach zehn Jahren in einer Führungsposition im Projektmanagement eine gut dotierte Position aufgegeben; sie wollte keine 50 Stunden mehr arbeiten, auch keine 40, aber weil ihr Arbeitgeber nicht bereit war, auf ihre 30h Forderung einzugehen, entschied sie, in Frührente zu gehen und will mit ihrem französischen Ehemann nun an die Algarve umziehen. Nach ihrer Begründung gefragt, meint die Frührentnerin, dass ihr nach einem langen intensiven Arbeitsleben eine Zukunft ohne Arbeit attraktiver vorkäme als stressbedingt in zehn Jahren ernsthaft zu erkranken.

 

Neuorientierung in der Lebensmitte zahlt sich aus

Ihr Mann ist ebenfalls vor einigen Jahren einen unkonventionellen beruflichen Neuorientierungsweg gegangen. Er hat sich in der Programmierschule 42 zur IT Fachkraft ausbilden lassen. Drei Jahre habe die praxisnahe Ausbildung gedauert, für die er immer wieder nach Nizza gependelt sei, wo das Paar eine Sommerwohnung hat. Die École 42 schult weltweit Menschen jeder Generation (ab 18) in über 42 Campussen zu Programmierern (um). Die Kosten für die Ausbildung wird nicht vom Auszubildenen selbst, sondern von der Wirtschaft finanziert. Ines' Mann Pascal hat durch seine Internships, die von 42 organisiert werden, mittlerweise einige Stammkunden und viele Aufträge, die das Leben der beiden mühelos finanzieren. Trotzdem kann er sich die Flexibilität erlauben, nur maximal 4 Tage pro Woche zu arbeiten.

Seine Frau Ines will "eigentlich nur mehr entspannen, die Sonne genießen und Golf spielen". Mit dem Verkauf ihrer Wohnung in Düsseldorf, ihrer Frührente und dem lukrativen Einkommen ihres Mannes seit seiner Umschulung bei 42 sei die Finanzierung der beiden gesichert und, das ist Ines Z. wichtig zu erwähnen, Reichtum bedeute ihr ohnehin schon lange nichts mehr. "Solange wir genug zu essen, Sprit zum Herumreisen und hin und wieder zu unseren Kindern und Enkeln nach Deutschland fliegen können, ist für mich alles in Ordnung“, sagt sie.