BLOG: 02.03.2022

Freedom Day Mentalität oder Warten auf Tag X?

Time matters

Ein umfassender Freedom Day ist in Deutschland nicht in Sicht. Aber das Verharren in Angst macht keinen Sinn mehr. Ob im Beruf oder Privatleben - das Leben nach Corona beginnt jetzt. Hand drauf.

Das ist doch Wahnsinn. Diesen Satz habe ich im Dezember sehr oft gehört, als ich im Freundes- und Bekanntenkreis von meinen Plänen berichtet habe, im Januar nach Sri Lanka zu fliegen. Reisen in Corona-Zeiten und dann noch eine Fernreise? Wenn da was passiert, nicht auszudenken! Gedrängel am Flughafen! Stundenlang im Flugzeug sitzen! Die Krankenhäuser dort! Das war der überwiegende Tenor. Eine Freundin, die die Wissenschaftsredaktion einer deutschen Zeitung leitet, hat mich dagegen in meinen Plänen bestärkt. In Sri Lanka sei die Inzidenz ohnehin viel niedriger als bei uns. Wenn du da bist, ist alles gut. Und genauso war es.

 

Warten auf den großen Tag

Am Strand habe ich oft über das Gespräch nachgedacht. Wir waren uns darin einig gewesen, dass viele Menschen auf den Tag X warten. Den Tag, an dem Corona nicht mehr da ist. Bis dahin wird alles zurück gestellt, Reisen verschoben, Freunde nicht getroffen, Veranstaltungen gemieden. Kein Kino, kein Restaurant. Ich hatte davon die Nase voll. Ich wollte mein Leben zurück. Klar ist das Reisen in solchen Zeiten aufwendiger, Gesundsheitserklärungen, PCR-Tests, stundenlanges Maskentragen. Aber der Aufwand lohnt sich. Nicht mehr warten auf Tag X. Sondern endlich raus. Im letzten Sommer hat sich das schon mal so angefühlt. Dann gab es die große Omikron-Watsche. Und wieder das Warten auf den großen Tag. Der vielleicht nie kommt.

 

Mutationen, Mutationen

Biontech-Gründer Sahin hat gesagt, dass wir die „die nächsten zehn Jahre“ mit Corona leben müssen. Die hohen Infektionszahlen durch Omikron würden nicht die letzte Corona-Welle sein, so Sahin. Das Virus mutiere und sei mit verschiedensten Varianten global weiter unterwegs. Klar, der Mann verkauft Impfstoff, er profitiert davon, wenn jede Variante eine spezielle Gegenwehr erfordert. Aber wer seinen Blick nach Asien richtet, ahnt, das Sahin Recht haben könnte. Denn Corona begann nicht 2020, sondern viel früher.

 

COVID-1

Am 16. November 2002 diagnostizierten Ärtze aus der Stadt Foshan in der chinesischen Provinz Guangdong bei einem Patienten eine „atypische Lungenentzündung“. Ende November reiste ein 33-jähriger Koch aus Shenzhen mit Krankheitssymptomen in seine Heimatstadt Heyuan, wurde im städtischen Krankenhaus behandelt und infizierte einschließlich des Krankenwagenfahrers acht Klinikangestellte. Bei der heute fast vergessenen SARS-Pandemie 2002/2003 verbreitete sich das Virus erstmals binnen weniger Wochen über nahezu alle Kontinente. Der Name des Virus: „SARS-CoV-1.“ Nachdem im Sommer 2003 die Zahl der Neuinfizierten weltweit zurückging, erklärte die WHO am 19. Mai 2004 das Ende der Pandemie. Was blieb, war das beständige Tragen von Masken in der Öffentlichkeit. In Asien.

 

Bleibt die Wuhan-Faust?

Eine Pandemie und 18 Ziffern auf der Cov-Skala weiter ahnt man auch bei uns, dass COVID bleiben wird. Auf was also warten? Gesundheitsminister Lauterbach stößt ins selbe Horn wie der Biotech-Gründer: die Bundesbürger sollen sich noch auf viele Jahre mit dem Virus einstellen. Also warum dann auf einen Tag X, Freedom Day oder sonst etwas warten? Never ever. Lieber sich das Leben erschließen, Schritt für Schritt. Natürlich stellen sich Fragen. Ob alles wieder so wird, wie es war. Wenn ich im Büro bin und jemand streckt mir seine Hand entgegen. Was tun? Wir haben uns in der Lockdown-Depression daran gewöhnt, niemandem mehr die Hand schütteln. Stattdessen gibt es die „Wuhan-Faust.“ Und was tun, wenn einem jemand zu nahe auf die Pelle rückt, nach dem Motto, die Abstandsregeln gelten ja nicht mehr?

 

Rückkehr des Handschlags

Die Handschlagsforscherin Ella Al-Shamahi, ja, so etwas gibt es wirklich, sagt: Der Handschlag, so unhygienisch er sein mag, kehrt zurück, unweigerlich. Schon in der Vergangenheit sind alle Versuche gescheitert, die Geste abzuschaffen. Hier gibt es eine interessante Analogie zur Spanischen Grippe Ende des 19. Jahrhunderts und zur Gelbfieber-Epidemie Ende des 18. Jahrhunderts. In bestimmten Regionen wurde damals der Handschlag abgeschafft, in einigen war er sogar verboten. Aber dorthin, wo er einst üblich war, kehrte er stets wieder zurück. Es spricht viel dafür, dass es auch nach der Corona-Pandemie so sein wird. Deswegen machen Handreinigung-Systeme im Büro auch in Zukunft Sinn.

 

Sorglose, glückliche Dänen

In unserem nördlichen Nachbarland Dänemark ist das Händeschütteln wieder en vogue. Umfragen zeigen, dass die Angst vor der Corona-Pandemie in Dänemark äußerst gering ist. Die Menschen haben kaum Sorgen, welche Folgen das Virus für sie persönlich ökonomisch oder für die Gesellschaft bedeutet. Ein ganz anderes Bild zeigt sich in Deutschland. Hier warten viele weiter griesgrämig auf die große Wende, die große Befreiung. Das lange Hinziehen von Pandemie und Maßnahmen, die darauf reagieren, führen zu einer großen Müdigkeit. Je länger es dauert, je stärker wird die Notwendigkeit der Regeln in Frage gestellt.

 

Freedom Day 2.0

Am 11. September hatte Dänemark einen Freedom Day ausgerufen und die Krankheit nicht mehr für kritisch erklärt. Als dann Omikron dazwischen funkte, musste die Regierung mit neuen Maßnahmen dagegenhalten. Zugute halten muss man der dänischen Regierung, dass die Frage, wieviel man den Menschen zumuten kann, stets bei Entscheidungen herangezogen wurde. Gefühlsmäßig war das bei uns nicht immer der Fall.

 

German Angst

Es scheint auch eine Mentalitätssache zu sein. Eine aktuelle Umfrage ergab, dass 55 Prozent der Deutschen Angst vor weiteren Corona-Wellen haben, solange nicht alle gegen das Virus geimpft sind. Angesichts der hohen Zahl der Impfgegner ist es unwahrscheinlich, das das je der Fall ist. Also bleibt sie uns erhalten, die typische German Angst. Die steht in direkter Linie mit dem Warten auf den Tag X. Wer Angst hat, reist nicht. Wer Angst hat, hält Abstand.

 

Hitzige Talkshows

Wer Angst hat, schüttelt niemanden die Hand. Dänemark hat unterdessen seinen zweiten Freedom Day gefeiert. Da aber die Dänen als Gemeinschaft mit Fehlern besser umgehen als die Deutschen, bleiben sie cooler und regen sich weniger stark auf als die Deutschen mit ihren Spaltungsdebatten und hitzigen Talkshows mit einem mahnenden Gesundheitsminister als Dauergast.

 

Ferne, wundersame Welt

Bin ich eigentlich bescheuert? Das dachten sich in diesem Winter viele, wenn sie sich durch die bunten Bildergalerien in sozialen Netzwerken wie Instagram klickten. Klar, hier sieht man nur das, was die Leute für glamourös genug halten, um hergezeigt zu werden. Aber selbst wenn man das abzieht, sieht man eine Welt ohne Angst. Sonnenuntergänge am Strand, Tische, die sich unter Seafood-Platten biegen, der menschenleere Markusplatz in Venedig. Eine ferne, wundersame Welt. Wer im grauen Corona-Deutschland sitzt, hält diese Welt für unerreichbar. Aber sie ist da.

 

Tschüß, Corona. Bis zum nächsten Mal

Oder besser gesagt: sie war es. Jedenfalls in der einsamen Variante. Denn die Buchungszahlen für den Sommer explodieren gerade. Die Reiselust nach Corona ist riesig, auch Airlines wie Lufthansa spüren eine reissende Nachfrage nach Tickets für Flüge in den Süden, die Preise für Mietwagen haben sich vielerorts verdoppelt. Es wird also voll an den Stränden. Dahinter steckt auch die Angst, dass im Herbst der Corona-Katzenjammer von neuem beginnt.

Ich werde da nicht mitmachen. Spätestens im November packe ich die Koffer und mach mich auf den Weg nach Asien. Und dann heißt es: Tschüß, Corona. Bis zum nächsten Mal.